Frauenschicksale der jüngeren Deutschen Vergangenheit – Interview mit Katharina Fuchs

Mit „Zwei Handvoll Leben“ traf Katharina Fuchs viele Leser:innen mitten ins Herz. In den nächsten Tagen erscheint ihr dritter Roman „Lebenssekunden“ bei Skoobe. Auch dieser handelt von zwei starken Frauen, deren Schicksale 1961 in Berlin miteinander verwebt werden. Wir haben Katharina Fuchs gefragt, wie es ist, als Autorin in die Vergangenheit zu reisen.

Von echten Lebensgeschichten inspiriert

Sie haben bereits 2011 Ihren ersten Roman als Katharina Sulzbach veröffentlicht. Doch mit „Zwei Handvoll Leben“ kam Ihr Durchbruch. Das Buch stand und steht monatelang auf den Bestsellerlisten und wurde schließlich zum meistverkauften eBook des Jahres 2020 (Quelle: MediaControl). Was hat Sie dazu veranlasst, diese Geschichte zu schreiben? Und warum, glauben Sie, ist dieses Buch gerade so erfolgreich?

Von klein auf habe ich mich für unsere deutsche Vergangenheit interessiert. Und in meiner Familie wurde davon sehr viel gesprochen. Wenn meine Oma Charlotte, meine Tanten und Onkel von unserem Hofgut in Sachsen erzählten, habe ich alles aufgesaugt und wenn es bei meiner Oma Anna um die 1920er und 1930er-Jahre in Berlin, oder um ihre Zeit beim KaDeWe ging, lauschte ich besonders aufmerksam. Dann bekam ich aus dem Nachlass meiner Oma Charlotte die alten Wirtschaftsbücher des Guts und ein Tagebuch, mit sehr sporadischen Einträgen. Durch den Zweiten Weltkrieg hindurch, über viele Jahre, hat sie immer wieder hineingeschrieben. Das war womöglich der Auslöser. Beider Leben waren so exemplarisch für deutsche Frauenschicksale in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und gleichzeitig außergewöhnlich genug, dass ich fand, sie verdienten es, in Prosa festgehalten zu werden. Den Erfolg macht sicher die Perspektive, allein aus Frauensicht, und die Authentizität aus. Es gibt nicht mehr viele Zeugen dieser Zeit und ich hatte noch die Gelegenheit, von meinen Großmüttern und meinen Eltern (Jahrgang 1925 und 1929) atemberaubend viele Details aus ihrem Leben zu erfahren. Ich war behutsam aber auch beharrlich und bekam sogar Antworten auf Fragen, zu denen früher lieber geschwiegen wurde.

Wann und wie wurde Ihnen klar: Ich kann von meinen Büchern leben. Und nun hänge ich meinen Job als Justiziarin „an den Nagel“ und bin Autorin?

Als ich regelmäßig Zwei-Buch-Verträge von meinem Verlag angeboten bekam und der Vorschuss immer im ersten halben Jahr eingespielt war, hatte ich das Gefühl, dass mein Beruf von nun an Schriftstellerin sein könnte und nicht mehr Juristin. Ich betrachte das als Privileg und nehme das Schreiben sehr ernst. Gleichzeitig macht es mir große Freude, an jedem Tag der Woche, wenn ich mich morgens, nach der Runde mit meiner Golden Retriever Hündin Ilvy, an die Tastatur setzte.

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In „Zwei Handvoll Leben“ erzählen Sie die Lebensgeschichten Ihrer Großmütter, in „Neuleben“ verarbeiten Sie die Erlebnisse Ihrer Tante und Ihrer Mutter. Was hat Sie zu „Lebenssekunden“ inspiriert?

Zu meinem Roman „Lebenssekunden“ hat mich auf jeden Fall Barbara Klemm sehr inspiriert, eine der ersten Pressefotografinnen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ich war schon lange von ihren, teilweise ikonischen Fotos fasziniert. Und 2016 habe ich sie dann persönlich bei einer Auktion in Frankfurt kennengelernt. Sie wusste zu jeder ihrer dort ausgestellten Fotografien eine Hintergrundgeschichte zu erzählen: Über welche Absperrung sie geklettert war, welche verbotene Tür sie geöffnet hatte, um plötzlich als einzige Willy Brandt gegenüberzustehen. Oft musste sie unsagbar schnell sein, um das eine Foto zu haben, das andere nicht hatten. Was machte sie so anziehend? Ihre Bescheidenheit und Empathie! Ihre Fotografien kreisen immer um Menschen und behandeln sie mit Respekt und Mitgefühl, werben bei dem Betrachter um Verständnis und Anteilnahme. Ein bisschen ist es ja auch das, was ich durch meine Bücher versuche. Und dann gab es in der Ausstellung zur Auktion noch diese eine Fotografie einer blutjungen Kunstturnerin – einem Kind – das ganz weit oben in einer leeren, maroden Halle an Ringen hängt. Wo hat sie es aufgenommen? In der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig. Ein Bild, das die monströse Menschenverachtung, Härte und Einsamkeit des Leistungssportsystems der DDR in sich trug.

Gibt es eine Szene in „Lebenssekunden“, die Ihnen beim Schreiben besonders viel Spaß gemacht hat? Welche, und warum?

Ich glaube, das war das Leipziger Turn- und Sportfest 1956, zu dem die Kunstturnerin Christine aus Ost-Berlin mit ihrer Mannschaft fuhr. Dort trafen sich in dem neuerbauten Zentralstadion über 70.000 Sportler aus Ost- und Westdeutschland für mehrere Tage im August. Ich habe mich so gut in diese jungen Menschen aus zwei verschiedenen Regimen hineinversetzen können, die mit hohen Erwartungen nach Leipzig kamen. Alle hatten den Krieg und die Hungerjahre erlebt, sie wünschten sich ein Stück unbeschwerte Jugend zurück, suchten ein neues Lebensgefühl und das gemeinsame Sportereignis sollte ihre Sehnsucht befriedigen. Das Leben zog in die Straßen und Plätze der grauen DDR-Stadt ein, wie ein unaufhaltsamer Schnellzug. Christine traf dort, trotz der engmaschigen Bewachung durch ihren Trainer, einen jungen Kunstturner aus Stuttgart wieder …

Zum Friseur nach Ost-Berlin – Liebe für Details

Ihre Bücher bestechen vor allem durch ihre Details. Als Leser:in sieht man die Geschehnisse der Geschichte nicht nur vor dem geistigen Auge, man spürt und riecht und schmeckt sie auch nahezu. Wie ist es Ihnen gelungen, den Zeitgeist der verschiedenen Jahrzehnte so detailgetreu wiederzugeben?

Es steckt natürlich sehr viel Recherche dahinter. Ich sehe mir unendlich viele Dokumentationen aus Mediatheken an, lese viele Sachbücher. Aber auch beim Schreiben von „Lebenssekunden“ habe ich wieder unzählige Gespräche mit meiner Mutter geführt, die ja das geteilte Berlin in den 1950er-Jahren selbst erlebt hat. Fragen, wie: „Wie war das mit dem besonderen Berlinstatus? Konnte man wirklich so ohne weiteres von einem Sektor in den anderen gelangen? Wie sah der Übergang aus? Seid ihr wirklich für eine billigere Dauerwelle zu Ost-Mark-Preisen in den sowjetischen Sektor gefahren? Habt ihr überhaupt nicht geahnt, dass die Mauer in Berlin gebaut wird? Meine Oma und meine Eltern haben die Zeit hautnah miterlebt. Von ihren Erinnerungen profitiert auch „Lebenssekunden“.

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In Ihren Romanen vollführen Sie eine Zeitreise durch das letzte Jahrhundert. In welche der Epochen Ihrer Romane sind Sie am liebsten eingetaucht. Und warum?

Diese Zeitreise durch die jüngere deutsche Geschichte hat mich selbst unglaublich gefesselt, gerade weil ich sie in den Kontext zu wahren Erlebnissen stellen konnte. Ich glaube es war tatsächlich die Epoche aus „Zwei Handvoll Leben“ von 1914 bis 1953, durch zwei Weltkriege hindurch, die mich nie mehr loslassen wird, wohl auch, weil sie bis heute nachwirkt. Hyperinflation, Massenarbeitslosigkeit, Radikalisierung, Aufrüstung und dann die Katastrophe, die Judenverfolgung, das Inferno des Zweiten Weltkriegs, mitten darin, in unterschiedlichen Rollen, meine Großmütter, Großväter, Eltern, Tanten, Onkel. Das kann und werde ich niemals vergessen.

Buchtipps der Autorin

Wenn man Sie fragt, wie Sie zum Schreiben gekommen sind, dann antworten Sie gerne „durch das Lesen“. Welche Bücher haben Sie besonders inspiriert und sind Ihre „Must Reads“?

Ich habe mich schon als Kind quer durch die Bücherbestände aller Verwandten, Freundinnen, Nachbarn und Büchereien gelesen. Bücherwurm nennt man das wohl. Was hat sich eingeprägt? Kinderbücher von Erich Kästner und Christine Nöstlinger („Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“) natürlich auch von Astrid Lindgren, von denen ich finde, man kann sie getrost auch als Erwachsener immer mal wieder aufschlagen. John Irving, „Garp und wie er die Welt sah“, Martin Mosebach, „Westend“, und ein Klassiker von Thomas Mann, den ich einmal im Jahr in der Weihnachtszeit lese, „Die Buddenbrooks“.

Und eine allerletzte Frage: In welche Geschichte dürfen Ihre Leser:innen als nächstes abtauchen?

In meinem nächsten Roman geht es in die 1970er- und 1980er-Jahre. Passend zur derzeitigen Stimmung wird es ein sehr grünes Buch, in dem die Umweltzerstörung und der Raubbau unserer Lebensressourcen eine große Rolle spielt. Die 70er markierten den Höhepunkt der Gewässerverschmutzung in Deutschland. Natürlich werden die Leser diese Zeit wieder durch die Augen von außergewöhnlichen Frauenfiguren miterleben können.

Vielen Dank, Frau Fuchs, dass Sie sich Zeit genommen haben, unsere Fragen zu beantworten. Wir freuen uns schon sehr, endlich einen Blick in Ihren neusten Roman zu werfen!

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