Dieses Buch ist eine Anleitung zum Anderssehen, zum etwas anders sehen. Und wie das gemeint ist, das erfahren wir schon zu Beginn der ersten der insgesamt neun Geschichten von Wolf Spillner, der er den Titel gegeben hat „Mein schönster Baum“. Und so fängt sie an, die Geschichte, und damit die erste Anleitung zum Anderssehen:
Ihr könnt sagen, es lohnt nicht, über Bäume nachzudenken. Sie stehen da und sind aus Holz. Wir können es zu Balken schneiden oder Möbel daraus bauen oder auch Geigen und Mandolinen. Aus Holz können wir Papier machen und aus dem Papier schöne Bücher mit Bildern.
Das alles ist richtig.
Aber wir können Bäume auch anders sehen. So wie mein Freund Werner. Vor seinem Haus steht eine Schwarzpappel. Das ist ein breiter Riese mit schweren Ästen und dicker Borkenrinde. Von einem Ast pendelt ein Schaukelbrett an einer langen Kette. Darauf können unsere Kinder durch den Sommer fliegen.
Im April blüht die Riesenpappel. Das ist lustig - ihre Blüten sehen wie Raupen aus, rot und silbern. Die ersten Stare schwatzen dann in ihren Zweigspitzen, und im Sommer, wenn die Felder schwer von Hitze sind, finden wir unter ihrer Krone kühlen Schatten. Auch die Traktoristen und Mähdrescherfahrer rasten hier gern zur Mittagszeit. Ein freundlicher Baum, sagen sie.
Im Herbstwind fliegen die Pappelblätter wie goldfarbene Herzen auf den Acker, und mein Freund Werner meint: „Das ist der schönste Baum, den es gibt!“
Wir wollen ihm nicht widersprechen. Die große Schwarzpappel ist sein Freund. Aber wir haben andere Freunde und kennen andere Bäume, die wir lieben…
Und auch der Autor, also Wolf Spillner, der hat einen anderen schönsten Baum, obwohl er vielleicht gar nicht schön ist. Man muss es nur richtig sehen – mit eigenen Augen.
Und auch in den anderen acht Geschichten kann man dieses Anderssehen trainieren: so als Martin während eines Frühlingstages eine traurige Entdeckung macht, als ein Mann eine ganz besondere Geige spielt, die man sogar im Schlaf hören kann, als ein alter Mann auf dem Friedhof in der Betonstadt Berlin die Krähen füttert und sie auf einmal vermisst, als Karin am Meer einem kranken Frosch begegnet, als Heiko seine Angel verliert und dafür etwas anderes gewinnt, als Kerstin etwas anstellt, als sich Susanne eine Katze zum Geburtstag wünscht und sie ihre Angst vor einer Hexe überwinden muss, und als der Autor mit dem Fahrrad nach Wismar fährt - Vom Fahrrad kann man die Landschaft besser betrachten als aus dem Auto. Es ist nicht so gefährlich.