Etwas Ungeheuerliches ist passiert. Eine junge Frau ist in einem Verlies eigesperrt. Und das ist kein Film, sondern das ist Wirklichkeit:
Der schmale Streifen Tageslicht, der sich dort abzeichnete, wo die schwere Eisentür über der obersten Stufe der Kellertreppe endete, stellte die einzige Orientierungshilfe für sie dar. Doch die Wintertage waren kurz, und die junge Frau in dem dunklen Verlies fürchtete bereits die lange Nacht, die bald auch diesen einzigen Sichtpunkt auslöschen würde, der sie mit der Welt dort draußen verband.
„Hallo! Hört mich jemand? Ich bin hier unten im Keller! Helft mir!“
Wie oft hatte sie diesen oder einen ähnlichen Ruf schon hinausgeschrien? Längst war sie heiser, sodass sie nur noch flüstern konnte. Es kam ihr sogar vor, als wären ihre Stimmbänder inzwischen zu dicken Seilen angeschwollen. Sie schmerzten und schienen sie fast zu ersticken.
Niemand hatte sie gehört, und sobald sie in Gedanken den Weg nachvollzog, den der Junge sie geführt hatte, begriff sie, dass es aussichtslos war zu hoffen, sie könnte mit ihren Rufen irgendwen auf sich und ihre Notlage aufmerksam machen. In diese abgelegene Industriebrache verirrte sich niemand, und wäre Ben durch irgendein unbeeinflussbares Ereignis daran gehindert, sie weiterhin notdürftig zu versorgen und irgendwann wieder freizulassen, würde sie womöglich das Tageslicht nicht wiedersehen.
„Ich will hier raus!“, sagte sie, so gut es ging. „Ich will nicht sterben, ich bin erst 32 Jahre alt, im vorigen Monat hatte ich Geburtstag.“
Diese junge Frau, die da um ihr Leben fürchtet, heißt Anna-Maria mit Vornamen, und sie ist Lehrerin. Und der Junge, der sie dorthin geführt hatte, dieser Junge ist einer ihrer Schüler.
Verrückte Geschichten schreibt es, das Leben. Da verehrt ein Schüler, der sich in seiner Familie und seiner Umwelt nicht mehr angenommen fühlt, seine Lehrerin, fühlt sich von ihr bestärkt in seinen Lebenswünschen. Und gerade deshalb entführt er sie, sperrt sie in einem Abrisskeller ein, gefährdet am Ende ihr Leben. Was treibt ihn dazu, sich gerade zu dieser Frau so zu verhalten?
Der Autor geht dieser Frage nach, betrachtet sie in dem Geflecht von Beziehungen, in dem der Junge und seine Lehrerin verstrickt sind. Für den Leser steht nicht die Frage, ob dies hätte verhindert werden können, die man sich in ähnlichen Fällen so oft zu spät stellt, sondern erkennbar wird, dass hier Wünsche und Sehnsüchte unter Umständen aufeinandertreffen, die fast zwangsläufig unglücklich ausgehen müssen.
1 Kommentar zu „Zeit der Schneeschmelze“
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