Im Herbst 1992 besuchte Peter Härtling zum ersten Mal nach 1945 die Stadt seiner Kindheit Olomouc (Olmütz) in Mähren. Er wollte noch einmal den Spuren seines Vaters folgen, der ein paar Jahre in Olmütz als Rechtsanwalt tätig war und mit dessen Andenken er sich vor allem in Nachgetragene Liebe (1980) auseinandergesetzt hat. Wieder muß Härtling sein Bild vom Vater revidieren, wieder macht er die für sein Schreiben zentrale Erfahrung, daß die Erinnerung nichts Gegebenes, Statisches ist, sondern sich die Vergangenheit mit jeder neuen Lebensphase neu darstellt.Doch Härtlings Aufmerksamkeit, sein Interesse gelten neben dem Vater nun vor allem einem anderen Menschen: der tschechischen Sekretärin seines Vaters, deren Leben nach dem Ende der Nazizeit Härtling in Bruchstücken in Erfahrung brachte. Offenbar ist diese Frau, da sie für einen Deutschen gearbeitet hatte und als Kollaborateurin betrachtet wurde, ihr Leben lang geächtet worden.Hier beginnt Härtlings Novelle. Sie ist fiktiv, auch wenn sie einen wahren Grund besitzt, muß erfinden, um die Wirklichkeit dieser Frau fassen zu können. Härtling nennt sie Bozena Koska.Bozena muß nach der Befreiung der Tschechoslowakei erfahren, daß sie nicht mehr dazugehört. Erst soll ihr Chef, der »Herr Doktor«, ein Nazi gewesen sein, nun, ab 1948, die Kommunisten regieren, gilt er als Faschist. Für Bozena bleibt er ein Mensch, der entgegen der Weisungen der Nazis allen half, waren sie nun Deutsche, Tschechen oder Juden. Bozena wird verhöhrt, wehrt sich, wird bestraft, ausgegrenzt.Da beginnt sie, Briefe an ihren »Herrn Doktor« zu schreiben, in denen sie ihm erzählt, was sie sonst nicht auszusprechen wagt. Erst spät erfährt sie, daß alle ihre Briefe an einen Toten gerichtet waren.Behutsam, genau und mit großer sprachlicher Intensität zeichnet Peter Härtling in Bozena das Schicksal einer Frau nach, deren Leben von der Gewalt der Geschichte, die immer wieder Menschen dazu verurteilt, ohne Schuld auf der falschen Seite zu stehen, zerrieben wurde.