Warum sollten die Bedingungen für die funktionale Entwicklung von Kindern, die unter Zerebralparese in jeder ihrer Erscheinungsform leiden, identisch sein mit den Bedingungen, die gesunde Kleinkinder brauchen, um sich gesund zu entwickeln? Dies erläutert ausführlich das vorliegende Buch. Nur durch gleiche oder zumindest ähnliche Bedingungen wird es einem Säugling oder Kleinkind mit einem verletzten Nervensystem möglich, sich aus seiner Behinderung ganz zu befreien.
Was sollte unbedingt Teil dieser Bedingungen sein? Die sogenannte Strategie der kleinsten Schritte, insbesondere beim Umgang mit behinderten Kleinkindern, ein Lernen unter niedrigster Spannung, das auch Low-Tension-Learning genannt wird. Das ermöglicht einem behinderten Kind, sich aus seiner Behinderung zu befreien, ohne dass das Kind seine Behinderung überhaupt wahrnimmt. Diese Strategie entspricht der (Wachstums-)Strategie, die ein gesund geborenes Kind von selbst anwendet, um all das zu lernen, was es in seinen ersten drei Lebensjahren zu lernen hat.
Förderung und Blockaden beim Lernen entstehen immer auf die gleiche Weise. Jemand, der noch kein Musikinstrument erlernt hat, wird genauso wenig als behindert eingestuft wie ein gesundes Kind, das wegen seiner noch unreifen funktionellen Entwicklung sein Kleid noch nicht selbst zuknöpfen kann. In beiden Fällen wird das Erlernen der gewünschten Fähigkeit nicht funktionieren, wenn seelisch und physisch traumatisierende Bedingungen vorliegen. Nicht anders ergeht es einem behinderten Kleinkind, das unter hochtraumatisierenden physischen Bedingungen, die als "Therapie" getarnt werden, niemals Koordination und Feinmotorik wird entwickeln können. Behinderte Kleinkinder sind keine Kinder zweiter Klasse, mit denen man sich erlauben darf, was man gesunden Kindern nie antun würde.
Die Strategie der kleinsten Schritte ist Teil der Feldenkrais-Methode. Moshe Feldenkrais konnte mit seiner Methode Künstlern wie Yehudi Menuhin und Igor Markevitch, zahllosen Leistungssportlern, Tänzern und Schauspielern helfen, ihre Beweglichkeit zu verfeinern. Er befreite mit seiner Methode den ersten Staatsmann Israels, David Ben Gurion, von seinen chronischen Rückenschmerzen, so dass er nach nur wenigen Monaten mit Feldenkrais-Behandlungen Kopfstand am Strand von Tel Aviv machen konnte. Zuvor war es ihm nicht mehr ermöglich, in den Himmel zu schauen. Ebenso half Feldenkrais hunderten behinderter Säuglinge und Kleinkinder, sich vollständig aus ihrer Behinderung zu befreien. Und zwar gerade weil er sich nicht mit der Behinderung dieser Kinder auseinandersetzte, sondern nur mit ihrer Fähigkeit, trotz ihrer Behinderung funktionale Fähigkeiten zu erlernen. Seine Methode schafft die notwendigen Bedingungen dafür, dass auch behinderte Säuglinge und Kleinkinder all das erlernen, was ein gesund geborenes Kind von sich aus und auf natürliche Weise in seinen ersten drei Lebensjahren lernt – ohne die Hilfe spezieller Pädagogik und ohne Physiotherapie.
Dieses Buch hat keine therapeutischen Ansprüche, sondern möchte den Eltern eines behinderten Säuglings oder Kleinkindes Anregungen geben und die Bedingungen vorstellen, unter denen sich auch ein behindertes Kleinkind gesund entwickeln kann.