Für den Blick von "ganz unten" begab sich der Wiener Journalist Max Winter vor hundert Jahren in die Welt der Wiener Elendsklasse. Seine Sozialreportagen zeigten Wirkung. Er ließ sich als Obdachloser verkleidet ins Polizeigefängnis werfen, arbeitete als Statist in der Hofoper, als Kulissenschieber im Burgtheater und als "Schreiber bei Harry Sheff", einer Kolportageromanfabrik. Rollenreportagen machten es ihm möglich, nicht von aussen, sondern von innen den Alltag Benachteiligter zu schildern. Dabei war die gesamte Monarchie sein Einsatzgebiet. Recherchen führten ihn in die Industriegebiete der Steiermark, zu den mährisch-schlesischen Webern oder den böhmischen Fabrikarbeitern.
Der Journalismus, wie Max Winter ihn verstand, ist nicht bloss Schreib(tisch)arbeit. Obwohl er seine Artikel akribisch mit wissenschaftlichen Ergebnissen, Statistiken und amtlichen Sozialberichten, Akten und Archivmaterial untermauerte, sicherten seine unkonventionellen Vor-Ort-Recherchen qualitative Standards, die nichts an Gültigkeit verloren haben. Seine Verkleidungen und das unerkannte Einschleichen in fremde Milieus, der maskierte Gang in die Welt der gesellschaftlichen Aussenseiter und Unterdrückten, ließen Max Winter Elend und Unrecht unmittelbar am eigenen Leib spüren. Er wählte diesen Weg, um nach der Überwindung von Recherchebarrieren in Terrains vorzudringen, die dem Journalisten verwehrt geblieben wären. Die Enthüllung von Missständen gelang durch Verkleidung. Was die "Muckraker" in den USA taten, leistete Max Winter, methodisch ein Wallraff der k.u.k.-Monarchie, in Wien: Er beschrieb die inoffizielle Realität der Großstadt, den Alltag der niederen sozialen Schichten der Monarchie von unten.