Zum einen erzählt der Roman Zu vorgerückter Stunde die Geschichte der Protagonistin Marianne Schuler und ihrer Familie. Zunächst gewährt er Einblick in ihre eigene Kindheit und Jugend, dann in die Familie ihres Vaters Ernst, der als Sohn eines wohlhabenden Industriellen in einer mittelgroßen Stadt aufwächst, wobei ganz besonders seine Mutter Barbara hervortritt – und endlich in die Kindheit ebendieser Barbara, einer Bauerntochter. Streiflichter durch einen Großteil des unruhigen zwanzigsten Jahrhundes also – immerhin aus der Warte eines scheinbar ruhigen Landes. Trotzdem bleibt auch die Familie nicht von Bruchlinien verschont: Barbaras Mutter stirbt, als ihre Jüngste noch klein ist; sie selbst lässt sich mit über sechzig scheiden; und Marianne oder besser der Zufall deckt auf, dass ihre Mutter ihre Stiefmutter ist; ihr Vater hat seine Älteste, Frucht einer rauschhaften Liebesbeziehung, gleichsam aus dem Ausland mitgebracht, wo er häufiger in Restaurants und Bars Klavier spielte als dass er sich auf der Bank um sein vom Vater vermitteltes Volontariat kümmerte.
Doch das ist bei Weitem nicht alles: Die Prostituierte Irena, Mariannes Freundin und Vertraute, glaubt ihre Seele dadurch schützen zu können, dass sie ihren Körper verkauft. Sie liest einen jungen unverbrauchten schwarzen Matrosen in einer Hafenkneipe auf, der eben über den Ozean hergefahren kam und sie auf der Stelle heiraten möchte, zumindest im ersten Überschwang. Peter, Mariannes Schwarm aus Mittelschulzeiten, hat als Musiker im Showbiz international Karriere gemacht, und sie trifft ihn, den sie längst für unerreichbar gehalten hat, völlig unverhofft – doch da stimmt bereits fast nichts mehr: Die Umwelt spielt nämlich verrückt. Die Topografie verändert sich hinterrücks, aus fern wird plötzlich nah, Breitengrade, Jahres- und Tageszeiten geraten durcheinander, das Wetter pendelt von Extrem zu Extrem. Die Ver-rückte meldet sich bald selber zu Wort, als eine, einmal sogar als zwei Stimmen, und es zeigt sich: Sie spielt nicht verrückt – sie selbst ist Opfer ihrer eigenen Ohnmacht. Marianne glaubt diese Irrungen und Wirrungen als Einzige wahrzunehmen, scheint doch rund um sie alles seinen gewohnten Gang zu gehen. Allerdings erleben sie und Peter zu dieser Zeit zwar ihr inniges erstes Tête à Tête und ihre erste Liebesnacht wie auf einem anderen Planeten – nicht aber ihr Erwachen danach. Und wenig später verschwindet ihr Vater, der mit dem Auto losgefahren ist, spurlos –
Nicht zuletzt durch das Verhalten der Umwelt wider jede physikalische Regel gerät Zu vorgerückter Stunde zur Metapher für das Gefühl des haltlosen Ausgeliefertseins, selbst dort, wo es von außen gesehen an Freiräumen und damit Freiheiten nicht mangelt.