«Jule Andersen war 72 Jahre alt, als ich sie kennenlernte. Für mich, den 45 Jahre Jüngeren, kam sie aus einer fremden Welt. Als fünftes von neun Kindern eines ungelernten Gelegenheitsarbeiters 1891 in Kiel geboren, entstammte sie der untersten sozialen Schicht, blieb – wie die meisten ihrer Geschwister – ohne jede Ausbildung und konnte niemals ein unabhängiges Leben führen. Das alles tat ihrem Selbstbewusstsein keinen Abbruch. Ihr waches Interesse für die Schicksale anderer Menschen und die politischen Tagesereignisse, ihre tiefsitzende Abneigung gegen die Männer, ihre vitale, bildhafte Sprache – eine Mischung aus Hochsprache und norddeutscher Mundart – und die Lust am Reden und Lachen bestimmten die Gespräche mit ihr. Das Material, aus dem ‹Winterkorn› entstanden ist, stammt überwiegend von Tonbandaufzeichnungen alltäglicher Lebenssituationen und manchmal auch aus Interviews – der ‹Klöterkasten›, wie Jule Andersen das Aufnahmegerät nannte, lief, ohne dass sie das im Geringsten störte, meistens mit, wenn ich in ihren letzten 12 Lebensjahren mit ihr zusammen war.»