"Die Apostel" schildert die Periode gemeinschaftlicher Thätigkeit, während welcher die kleine durch Jesus geschaffene Familie vereint vorgeht und sich moralisch um einen einzigen Punkt, Jerusalem, gruppiert. Das Buch wird uns aus diesem Kreise heraustreten lassen und uns fast nur den Mann zeigen, der mehr als jeder andere das erobernde und wandernde Christentum darstellt: den heiligen Paulus. Obgleich er sich von einem gewissen Zeitpunkt an den Titel eines Apostels beigelegt hatte, kam er ihm doch nicht so, wie den "Zwölf" zu; er ist ein Arbeiter zweiten Grades und fast ein Eindringling. Der Zustand, in welchem die geschichtlichen Schriften uns überliefert wurden, versetzt uns hier in eine gewisse Täuschung. Da wir unendlich mehr über Paulus als über die "Zwölf" wissen; da wir seine authentischen Schriften sowie ursprüngliche Mitteilungen von besonderer Genauigkeit über einige Epochen seines Lebens besitzen, so messen wir ihm eine Bedeutung ersten Ranges bei, welche die von Jesus fast überragt. Das ist ein Irrtum. Paulus ist ein großer Mann und er spielte bei der Gründung des Christentums eine der bedeutendsten Rollen. Er kann jedoch nicht mit Jesus, ja nicht einmal mit dessen unmittelbaren Jüngern verglichen werden. Paulus hatte Jesus nicht gesehen; er hatte nicht die Ambrosia der galiläischen Verkündungen gekostet...
Ernest Renan (1823-1892) war ein französischer Schriftsteller, Historiker, Archäologe, Religionswissenschaftler und Orientalist und Mitglied der Académie française. 1855 gab Renan eine historisch-systematische Konkordanz der semitischen Sprachen heraus. Verschiedene Reisen vor allem in den Nahen Osten führten zur Entstehung seines Hauptwerkes Das Leben Jesu, dessen erster Band 1863 erschien.