Die Dichter, die wir kennen, sind von der Zahl her wohl ein Bruchteil derjenigen, die überhaupt Gedichte schreiben oder geschrieben haben, aber sie wären nicht die, die wir kennen, wenn es die unbekannt gebliebenen nicht gäbe. Denn hohe Bäume wachsen dort, wo die andern Bäume schon relativ hoch sind, und genauso, wie bekannte Dichter vereinzelt auch schlechte Gedichte geschrieben haben, haben Unbekannte auch einzelne Gedichte hervorgebracht, die es wert sein mögen, bekannt zu sein.
Die Würdigung eines fiktiven unbekannten Dichters zu seinem 25. Todestag durch Beiträge genauso fiktiver Weggefährten, Schüler und Freunde zu einer Anthologie von Gedichten und Prosatexten gerät zur Reminiszenz an die Dichtung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem die der 50er, 60er und 70er Jahre, und wird zur Gelegenheit, verschiedene literarische Formen in Szene zu setzen. Den zwischen Spaß und tieferer Bedeutung, zwischen Kritik und Satire, Parodie und Imitation wechselnden Gedichten, Interpretationen, Essays und andern Prosatexten wird ein Anschein von Wirklichkeit gegeben und auch das Gewohnte und Vertraute erscheint in einem andern Licht. Wo es möglich scheint, dass die hier versammelten Werke genauso wie ihre Autoren selbst bisher unbekannt geblieben, aber real sind, könnte das Spiel mit erdichteter Fiktion und der Wirklichkeit des Erdichteten ein etwas anderes Verhältnis des Lesers zur Wirklichkeit von Dichtung bewirken.
Klaus-Peter Uffold, Der Main-Kompass