"Mystik ist katholisch. Mystik und Protestantismus passen nicht zusammen." Diese Meinung ist weit verbreitet, aber trotzdem falsch. Stattdessen stellt sich das Verhältnis von Mystik und Protestantismus als eine Problemgeschichte dar. Phasen der Hochschätzung und solche der Ablehnung wechselten einander ab. Seit der Reformation gab es Männer und Frauen, die dem Mainstream des Protestantismus angehören, deren Glaube und Theologie mystisch geprägt waren. Martin Luthers (1453–1546) reformatorische Erkenntnis entsprang einer mystischen Erfahrung. Seine reformatorische Theologie war mystisch orientiert. Philipp Nicolai (1556–1608), Paul Gerhardt (1607–1676), Johann Sebastian Bach (1685–1750), Gerhard Tersteegen (1697–1769) und Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) verliehen in Liedern und Musik ihren mystischen Erfahrungen klassischen Ausdruck. Selbst Leben und Werk protestantischer Zeitgenossen aus dem 20. Jh. wie Dag Hammarskjöld (1905–1961), Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) und Dorothee Sölle (1929–2003) waren mehr oder weniger offensichtlich mystisch geprägt. Sölle bekannte sich klar zur Mystik als einer Angelegenheit nicht von wenigen, sondern von allen Menschen. Tatsächlich war protestantische Mystik von Anfang an keine Angelegenheit religiöser Eliten, sondern stand allen offen. Da die evangelischen Choräle mystisch geprägt waren und das Abendmahl mystisch verstanden wurde, bot gerade der lutherische Gottesdienst allen Christen Zugang zu mystischem Glauben.