Anhand Tondolus’ Vision (1483) und St. Brandans Meerfahrt (1476) differenziert die Autorin in einer Vergleichsanalyse die frühneuhochdeutsche Visionsliteratur hinsichtlich ihrer Funktion und Wirkung. Die anthropologischen und philosophischen Jenseitsvorstellungen wurden in der Heldenepik mit ihrem antithetischen Verhältnis von Leben und Tod und in der Visionsliteratur mit der Entrückung ins Jenseits erfasst. Die Besonderheiten der Jenseitsreise liegen in der Topografie und der Semantik des Raumes, in dem transzendente Erfahrungen möglich sind. Die mittelalterliche Jenseitsreise unterlag einer kulturellen Fusion und Diffusion bezüglich der Raumsemantik und liefert keine einheitliche Vorstellung von Jenseitsgedanken. Vielmehr beeinflussten unterschiedliche Strömungen des Jenseitsglaubens die Visionsliteratur im Mittelalter, weswegen das damalige kulturelle Bild der Jenseitsreise traditionell archaisch-heidnisch und eschatologisch-religiös geprägt war. Das Jenseits als ein Ort der immateriellen Existenz war bereits im Altertum durch die Imagination von Gefühlsräumen und Auseinandersetzung mit dem Tod vorstellbar. Die Grenz- und Heilserfahrungen der beiden Protagonisten als sekundäres Ziel der Jenseitsreise stehen dabei im Zeichen der Subjektivierung und Förderung des Jenseitsglaubens. Die Autorin leistet einen hochinteressanten Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs und teilt eine wertvolle Abhandlung über die mittelalterliche Visionsliteratur hinsichtlich der Authentizität von Grenz- und Heilserfahrungen bei Jenseitsreisen. Sie taucht detailliert ins Thema ein, dabei ist ihre Vorgehensweise analytisch stringent und nachvollziehbar. Dadurch macht sie die Unterscheidung von echten und unechten Visionen am Beispiel der jeweiligen literarischen Abbildung deutlich und hebt die Unterschiede zwischen Jenseitsreisen und Jenseitsvisionen hervor.