Im 19. Jahrhundert stand die literarische Suche nach einer westfälischen Identität, nach einem regionalen Selbstverständnis sowie nach einer spezifisch westfälischen Sprache und Sensibilität noch im Mittelpunkt des literarischen Interesses. Die eigene Scholle galt es humorvoll, satirisch oder romantisch zu bebauen, ja, teilweise zu verklären. Max von Spiessen ist indes von der Wissenschaft geprägt und setzt literarisch genau dort mit seinen Erzählungen an. Es gelang ihm als Literat jene für ihn so charakteristische Mischung aus Wahrheit und Dichtung, frei nach Goethe, die ihn auch jenseits des Münsterlandes populär machte. Dennoch ist Max von Spiessen heute – zu Unrecht – nicht mehr als eine Randnotiz in der Literaturgeschichte Westfalens, denn ihm ist es gelungen, Provinzliteratur im besten Sinne des Wortes zu schaffen. Daher verdient sein literarisches Werk vor dem Hintergrund eines sich stärker ausprägenden regionalen Literaturbewusstseins erneute Beachtung. In seinen Geschichten erweist sich von Spiessen als aufmerksamer und genauer Beobachter seiner Heimat und deren Bewohner, ihrer Sitten und Gebräuche wie auch ihrer Legenden und Sagen. Mit der Sprachgewalt eines Künstlers entführt er uns in eine großbürgerliche und adlige Welt, deren Zentrum in Westfalen, im Münsterland und in Dülmen liegt. Volkstümlich, in Hochdeutsch oder Platt, anschaulich, humorvoll und auch spannend, schildert von Spiessen Schicksale und Leben seiner Zeit. Im Zusammenhang mit dem 170. Geburtstag von Max von Spiessen, den wir in diesem Jahr am 22.Juni 2022 feiern, entstand jene Ausgabe, die erstmals 30 bislang unveröffentlichte Geschichten aus dem Nachlass des Dichters der literarisch interessierten Öffentlichkeit präsentiert.