Als die Söhne Borrs am Meeresstrand entlangliefen, fanden sie zwei Baumstämme. Die hoben sie auf und schufen daraus die Menschen. Der Erste gab ihnen Seele und Leben, der Zweite Verstand und Bewegungsfähigkeit, der Dritte äußere Gestalt, Sprechvermögen und die Fähigkeit zu hören und zu sehen. Sie gaben ihnen Kleider und Namen; der Mann hieß Ask, die Frau Embla, und aus ihnen ging das Menschengeschlecht hervor, dem Midgard zur Heimstatt gegeben wurde.
Mit diesen Worten beschreibt Snorri Sturluson (1179–1241), der bedeutendste Autor des skandinavischen Mittelalters, in der Edda die Erschaffung des Menschen. Mag man in diesem kleinen Text noch ferne Anklänge an den christlichen Schöpfungsmythos erkennen, so ist das kein Zufall. Jene Autoren, die uns das Wissen über das nordische Pantheon, die Entstehung der Welt und ihren Untergang, aber auch Kämpfe mit Monstern und andere Abenteuer überliefert haben, kannten die christliche und darüber hinaus die antike heidnische Gedankenwelt. Klaus Böldl erzählt in seinem spannenden Buch die Mythen des Nordens, erhellt aber auch die vielschichtigen kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen sie entstanden sind.