Freie Wahlen sind ein essenzielles Element jeder Demokratie. Doch wie ein Blick auf die Geschichte der Wahlen zeigt, ist das Verhältnis beider zueinander ‒ und zum Volk als Hauptakteur ‒ überaus zwiespältig und keineswegs selbstverständlich.
Warum wählen wir? Warum haben sich politische Wahlen als das große Legitimationsmittel für Herrschaft durchgesetzt? Die Antwort scheint schnell gegeben: Wahlen ermöglichen den Menschen Freiheit und Gleichheit, und gegen alle Widrigkeiten haben Frauen und Männer sich immer wieder dieses Recht erkämpft und Demokratien errichtet.
Hedwig Richters umfassend angelegte Historiografie des Wahlrechts und der Wahlpraxis rekonstruiert über den Vergleich von Preußen und den USA im 19. Jahrhundert die Geschichte der Demokratie anhand der Wahlen. Mit ihrem innovativen Ansatz, der nicht nur auf Ideen und Gesetzestexte schaut, sondern auch die Wahlpraxis in den Blick nimmt, hinterfragt sie die Erzählung vom großen Freiheitskampf des Volkes um die Einfürung allgemeiner Wahlen. Die Autorin widerlegt die These vom anthropologischen Bedüfnis des Menschen nach Partizipation und politischer Verantwortung. Stattdessen verweist sie darauf, dass das Wahlrecht häufig von oben eingefürt und als Disziplinierungsinstrument der Herrschenden genutzt wurde.
Der Fokus auf den konkreten Akt des Wählens erlaubt zudem einen neuen Blick auf die alte Frage, warum im Laufe des 19. Jahrhunderts zwar immer mehr Männer als "gleich" anerkannt wurden und sukzessive das Wahlrecht erhielten, die Gleichheit der Frau jedoch erst Jahrzehnte später gedacht werden konnte. Denn der Einsatz des Körpers und Vorstellungen vom (männlichen) Körper gestalteten wesentlich die Stimmabgabe mit.
Was bedeuten diese Erkenntnisse für unsere Zeit? Demokratie ist kompliziert und alles andere als selbstverständlich. Wie historische und aktuelle Beispiele zeigen – so gegenwärtig im Irak und in Afghanistan – lässt sie sich nicht einfach modellhaft von außen installieren.