«Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden.» Als Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros der SED, diesen Satz am 9. November 1989 verlas, konnte er sich nicht vorstellen, daß noch am gleichen Abend der Sturm auf die Mauer losgehen würde: «Dazu reichte meine Phantasie nicht aus.»
Der Mann, der im SED-Staat eine glatte Karriere gemacht hatte, war der erste, der im erstarrten Politbüro Reformen forderte, und, unter dem wachsenden Druck der Bevölkerung, zusammen mit Egon Krenz, den Generalsekretär Erich Honecker stürzte. Jenen, die sich in der Nomenklatura der DDR genauer auskannten, war er schon früher aufgefallen: Er galt eher als pragmatisch denn dogmatisch, als reformgeneigt, aber auch zynisch, als ein Mann mit einer gewissen intelligenten Ausstrahlung, die sich von der grauen Garde der Politbüromitglieder abzuheben schien.
In diesem Band schildert Schabowski, wie die Entscheidung zur Maueröffnung zustande kam, wie im Politbüro Politik gemacht wurde und wie sich der «Putsch» vollzog; welche Rolle Gorbatschow bei dem Absturz spielte, wie das Triumvirat Honecker, Mittag und Mielke herrschte, wie die Wahlfälschung zustande kam und warum der wenig konsequente Erneuerungsversuch unter Krenz scheiterte.
Günter Schabowski ist nicht nur ein wichtiger Zeitzeuge. Als einer der Hauptakteure muß er sich auch der moralischen Verantwortung stellen. In seinen Antworten versucht er zu ergründen, was einen wie ihn dazu bewogen hat, sich an zentraler Stelle an einem Staat zu beteiligen, der versuchte, eine «humanistische Utopie» mit diktatorischen Mitteln durchzusetzen.