"Er ist tot. Er ist nicht tot." Essay über Paul Austers Roman "Stadt aus Glas":
Die labyrinthische Bauform von Paul Austers "Stadt aus Glas" wird meist als literarische Inszenierung postmoderner Theoreme gedeutet. Gewiss geht es in diesem ersten Roman der New York-Trilogie um Bedingungen und Aporien von Subjektivität und sprachlicher Wirklichkeitserfassung in einer Welt, in der die Verbindung zwischen dem Ich und den Realien auf technische Relationen reduziert scheint. Doch die formale Virtuosität und die erhabenen mythologischen Gegenstände, die in Stadt aus Glas verhandelt werden – Paradiesvertreibung, Turm zu Babel, Kaspar Hauser –, drohen den Blick auf eine Pathologie der – zumal männlichen – Individuation zu verstellen, die der Roman sehr viel verdeckter gleichfalls reflektiert.
Das Verbrechen, das der väterliche Kerkermeister in Austers Variation des Kaspar-Hauser-Mythos an seinem kleinen Sohn begeht, symbolisiert vor allem anderen die Unterjochung und tendenzielle Vernichtung unbewusster Selbstaspekte und kindlich-nichtrationaler Erfahrungsweisen im babylonischen Turm des erwachsenen Selbst. Dieser mörderischen Tyrannei instrumenteller Rationalität unterliegt nach Austers Analyse auch die Subjektivität des Schriftstellers, seine Innenwelt und Imaginationsfähigkeit.
Autor:
Andreas Gößling, 1958 in Gelnhausen geboren, lebt als freier Schriftsteller mit seiner Frau, der Autorin und Übersetzerin Anne Löhr-Gößling, in Berlin, wo er auch den Spezialverlag MayaMedia betreibt.
Der Autor ist Germanist, Politik- und Kommunikationswissenschaftler, Dr. phil (1985 Promotion mit einer s.c.l.-Dissertation über „Thomas Bernhards Prosakunst“, de Gruyter 1987). er hat zahlreiche Sachbücher und Romane für erwachsene und jugendliche Leser publiziert, u.a. "Faust, der MAgier" (Rütten & Loening 2007), "Der Ruf der Schlange" (Klett Cotta 2010), "Opus" (Boje 2010), "Deutschland misshandelt seine Kinder (Ko-Autor, Droemer Knaur 2014).