Gelassen durch den täglichen Wahnsinn – Pendler-Survival-Guide #2

Aus soziologischer wie ethnologischer Perspektive gibt es kaum Interessanteres als eine nähere Betrachtung der Menschen, die täglich zu Millionen auf den heimischen Straßen- und Schienenwegen unterwegs sind. Denn Pendler erleben Dinge, die jeder Rationalität, teilweise sogar Naturgesetzen, zuwider zu laufen scheinen. Es handelt sich um epische Abenteuer, von denen Normalsterbliche sonst nur träumen können. Dieses Mal werfen wir einen genaueren Blick darauf, wem oder was man in Zügen eigentlich so begegnet – mit einem Augenzwinkern und der nötigen Portion Humor.

Routine oder Ausnahmezustand?

Worin unterscheiden sich eigentlich Pendler von anderen Reisenden? Und warum ist der natürliche Todfeind des Pendlers nicht der Verspätungsalarm der Bahn, sondern der Normalreisende?

Für den Pendler stellt der Normalreisende in der Regel nur eine Konkurrenz um die begehrten Sitzplätze dar. Hilflos irrt der Normalreisende durch den Zug und sucht hektisch das korrekte Abteil mit Sitzplatzreservierung. Der Pendler hingegen weiß genau, wo der Hase im Pfeffer liegt. Er erspürt geradezu intuitiv, wo es die meisten freien Plätze gibt und stellt sich in Sekundenschnelle auf geänderte Wagenreihungen und ähnliche Herausforderungen ein.

Während der Pendler nur wenig bis gar kein Gepäck mitführt, besticht der Normalreisende durch übergroße Rollkoffer, die unter erheblichem Kraftaufwand, gepaart mit Stöhn- und Ächzgeräuschen, durch die engen Gänge navigiert werden. Oft kann man sich dabei des Eindrucks nicht erwehren, als befände sich der gesamte Hausrat des Reisenden darin. Auch herrscht unter ihnen eine geradezu irrationale Furcht vor, im falschen Zug zu sitzen. Obwohl es soeben über Lautsprecher verkündet wurde, dass dies der Intercity nach Ulm sei, es groß auf der nicht ausgefallenen Anzeigetafel im Zug steht, dass es sich tatsächlich um den Intercity nach Ulm handle, wird man als Pendler in regelmäßigen Abständen von schwer atmenden Normalreisenden gefragt, ob dies der Intercity nach Ulm sei. Alle Indizien deuten darauf hin, aber viele scheinen es dennoch abzulehnen, der Deutschen Bahn soweit zu vertrauen, dass die Angaben, wohin der Zug denn nun unterwegs ist, auch tatsächlich stimmen.

Tierisch komisch

Manchmal wird es auch einfach nur skurril: So huschte letztens im Zug ein kleiner Schatten an mir vorbei. Ich dachte mir nichts weiter dabei, schließlich hatte der Zug gerade den Münchener Hauptbahnhof verlassen und ich war bereits in mein Buch vertieft – genauer gesagt in den äußerst empfehlenswerten Thriller „Montana“ von Smith Henderson. Etwas verwirrt war ich dann, als einige Augenblicke später der Zugbegleiter aufgeregt vorbeilief und fragte: „Ist hier eben eine Taube entlang gelaufen?” Soso, eine Taube also, dachte ich und nickte nur. Weit war sie nicht gekommen, immerhin war sie zu Fuß unterwegs und flog erst auf, als ihr der Zugbegleiter zu nahe kam. Sofort wurde ich vom Zugbegleiter zum Taubenhilfsjäger befördert und hatte die einmalige Möglichkeit, das etwas verstörte Federtier zu fragen, wie es auf die Idee gekommen sei, mit dem Zug zu fahren. Da meinte die Taube doch tatsächlich, sie habe gehört fliegen sei schlecht für die Umwelt, sie habe einen Geschäftstermin in Hamburg und sich daher entschlossen ausnahmsweise mal den Zug zu nutzen. Da sie zudem aufgrund des üppigen Nahrungsangebots ohnehin oft am Hauptbahnhof rumhänge, habe sich der ICE von München nach Hamburg geradezu aufgedrängt.

Der Zugbegleiter, schwer transpirierend und hochkonzentriert, hatte derweil eine rote Kelle ausgepackt, mit der er hilflos in der Luft herumwedelte. Die Taube, an die Anwesenheit von Menschen offenbar gewöhnt, hatte sich nun in der Gepäckablage ein gemütliches Plätzchen geschaffen und machte zunächst keine Anstalten, ihren hart erkämpften Sitzplatz wieder zu räumen. Eine Fahrkarte konnte sie jedoch nicht vorweisen, was sie mit temporären Liquiditätsproblemen begründete. Der zunehmend kurzatmige Zugbegleiter ließ sich von derart fadenscheinigen Ausreden natürlich nicht beeindrucken und setzte mit seiner roten Kelle nun voll auf Angriff. Er imitierte in meisterhafter Eleganz einen Tennisaufschlag, der Boris Becker selbst zu seinen besten Zeiten hätte alt aussehen lassen, wodurch es schließlich auch die umweltbewusste Taube mit der Angst zu tun bekam. Ein erster Fluchtversuch ihrerseits scheiterte jedoch unsanft an der Glasscheibe des Abteils. Unterdessen hatte der Zugbegleiter seine Truppenstärke erhöht und in einer konzertierten Aktion gelang es ihm zusammen mit einigen waidmännisch ambitionierten Fahrgästen, die noch etwas benommene Taube in den Vorraum und zu den Zugtüren zu bugsieren. Dort wurde sie, als der Zug nach nur wenigen Minuten München-Pasing erreichte, unsanft des Zuges verwiesen und flatterte von dannen. Ob sie es je nach Hamburg geschafft hat, und falls ja, mit welchem Verkehrsmittel sie dort hingelangte, ist nicht überliefert.

Menschlich komisch

Ein besonderes Lob geht an dieser Stelle an alle, die hauptberuflich ihr Dasein in Zügen fristen. Ob LokführerIn oder ZugbegleiterIn, dafür braucht man wohl eine Menge Geduld und allgemeinen Frohsinn. Der Humor des Zugpersonals ist legendär, wenn auch mitunter ungewollt, wie etwa bei folgender Durchsage: „Wir können unsere Fahrt auf unbestimmte Zeit nicht fortsetzen, da im vor uns liegenden Streckenabschnitt Gegenstände Menschen auf die Gleise werfen.“ Da weiß man dann Bescheid.

Der Pendler ist routiniert und abgebrüht. Vom jahrelangen Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel schon oft leicht zynisch und abgestumpft kommentiert er Verspätungen oder Ausfälle nur mit einem gelassenen Schulterzucken. Schließlich nichts, was man ändern kann. Um bei Verspätungen mit mehr Mitgefühl und Verständnis der Fahrgäste rechnen zu können, sollen ja nun stets Gründe für die Verspätung angegeben werden. Dabei gibt es jedoch auch sehr kryptische Durchsagen, wie etwa die berühmt-berüchtigten „Verzögerungen im Betriebsablauf“. Darunter kann man sich zwar nichts vorstellen, diese Entschuldigung eignet sich aber auch für das eigene Leben hervorragend. Wenn man mal wieder zu spät zum Kinoabend mit Freunden erscheint, eine wichtige Deadline verpasst oder sich erst drei Tage zu spät an den Geburtstag der Gattin oder des Gatten erinnert, kann man sich hervorragend mit „Verzögerungen im Betriebsablauf“ entschuldigen. So kann man beim Benutzen der Bahn noch viel für’s Leben lernen: Gelassenheit und Humor nämlich. Und wer mit einer gewissen positiven Grundhaltung an die Sache herangeht, kann sowohl beim Pendeln als auch beim Reisen auf den Schienen dieser Republik nicht nur das ein oder andere Abenteuer erleben, sondern hin und wieder auch herzhaft lachen!

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