Im Herzen Europas: Der Abschluss unserer Lesereise

Wie „erliest“ man sich Europa? Und was zeichnet die einzelnen europäischen Regionen aus? In unserem Blogartikel „Lesereise durch Europa“ haben wir Dir für fast alle 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ein Buch vorgestellt. Nachdem wir nun schon den wilden Norden und Osten, als auch den sonnigen Süden bereist haben, geht es im letzten Teil unserer literarischen Reise in den Westen und das Herz Europas.

Zwischen Abgrenzung und Annäherung: Ein Blick auf die Britischen Inseln

Wenn man über Europa spricht, kommt man dieser Tage an dem drohenden Brexit wohl nicht vorbei. Großbritannien hatte schon immer eine besondere Beziehung zum europäischen Festland, die viele Jahrhunderte lang eher von Konflikten um die Vorherrschaft auf den Weltmeeren und in überseeischen Gebieten bestimmt war. Doch die Vergangenheit ist ebenso geprägt von Handel und Austausch sowie von gegenseitiger Anerkennung. Nicht zuletzt die allseits beliebte britische Königsfamilie entstammt dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha – hat damit ihre Wurzeln also auf dem Festland.

In der hochpolitischen Diskussion um den Brexit schwingen Ängste mit, die mit der Globalisierung und den damit einhergehenden Risiken verbunden sind. Doch viele in Großbritannien, allen voran auch die Schriftsteller, versuchen sich auf das Einende zu konzentrieren und so der Spaltung entgegenzuwirken, die diese Debatte in der Gesellschaft befördert. So auch die Autorin Ali Smith. In ihren Büchern geht es um Austausch und gegenseitigen Respekt sowie die Kraft des Zuhörens. Ihr Buch „Von Gleich zu Gleich“ etwa ist ein ungewöhnlicher Liebesroman voller Rätsel: Die Geschichte von Amy und Ash, deren Begegnung in jungen Jahren so intensiv ist und so dramatisch endet, dass sie ihr ganzes späteres Leben bestimmt.

Englands Nachbarinsel Irland wäre ebenso von einem Brexit betroffen. Hier könnte es zu einer harten Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland kommen. Das wollen alle Politiker nach Möglichkeit verhindern, hätte es doch ökonomisch wie politisch potentiell fatale Folgen für die ganze Region. Auf dem Festland sind die Iren nicht nur für ihren St. Patrick’s Day und ihr Guinness-Bier bekannt, sondern auch für ihren Familiensinn und starken Zusammenhalt. Die im irischen Dublin geborene Anne Enright zählt zu den bedeutendsten englischsprachigen SchriftstellerInnen. Ihr Buch „Das Familientreffen“ wurde 2007 mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet: Der Hegarty-Clan versammelt sich in Dublin, um Liam, das schwarze Schaf der Familie, zu Grabe zu tragen – doch schnell gerät der Anlass zur Nebensache. Nur Veronica wagt es, nach den Umständen zu fragen, die ihren Bruder in den Tod getrieben haben mögen. Ein beeindruckend intensiver Roman über die Frage nach Schuld und Verantwortung, nach der Liebe und ihren Folgen.

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Klein aber fein: Belgien und die Niederlande

Zurück auf dem europäischen Festland führt unsere Reise weiter in die Benelux-Staaten. Für die Niederlande wird der Klimawandel und der mit dem Abschmelzen der Eismassen in Arktis und Antarktis steigende Meeresspiegel zunehmend zum Problem. Sie kämpfen gegen das herannahende Meer während hierzulande viel über das Insektensterben berichtet wird, wenn es um die vom Menschen gemachten Umweltprobleme geht. Mit dem Rückgang der Insekten verschwinden auch immer mehr Vögel. Sie finden weniger Nahrung und haben mit der Zerstörung ihrer ursprünglichen Lebensräume zu kämpfen.

Die Faszination für diese Tiere brachte die niederländische Autorin Eva Meijer dazu, eine Romanbiographie der besonderen Art zu schreiben. In „Das Vogelhaus“ berichtet sie über die Vogelkundlerin Len Howard (1894-1973). Sie verbrachte die zweite Hälfte ihres Lebens in einem kleinen, abgelegenen Haus und erforschte den Gesang, den Charakter, die Eigenarten und die Gewohnheiten in der Natur der scheuen Tiere. Und tatsächlich wurde ihr Cottage ein echtes „Vogelhaus“, in dem die Meisen und Drosseln ein- und ausflogen – wenn es Len Howard denn gelang, unerwünschte Besucher fernzuhalten. Die faszinierende Lebensgeschichte der zu Unrecht vergessenen Vogelkundlerin wurde durch Autorin Meijer zu einem besonderen Roman über Mensch und Natur.

Wenn wir die Niederlande in Richtung Süden verlassen, gelangen wir nach Belgien. Ebenfalls im Herzen Europas gelegen, war es oft Zentrum der Geschichte, was dem kleinen Land jedoch auch immer wieder zum Nachteil gereichte. Schon im Ersten Weltkrieg wurden große Teile des Landes in Mitleidenschaft gezogen. Auch im Zweiten Weltkrieg kam dem Land eine mitentscheidende Rolle zu, starteten die Nationalsozialisten doch ihren Feldzug im Westen 1940, indem sie abermals das neutrale Belgien angriffen. Dieses Ereignis ließ auch den bekannten belgischen Autor und Psychotherapeuten Henry Bauchau nicht unberührt. Gegen Ende des Krieges schloss er sich den Partisanen an und wurde nach einer Verwundung nach London evakuiert. Bauchaus Roman „Licht gegen Schatten“ – in weiten Teilen von der Autobiografie des Autors geprägt – ist eine tiefgründige Reflexion über das Altern und die Unausweichlichkeit des Todes sowie ein Rückblick auf das Leben mit seinen entscheidenden Stationen.

Zwei Schlüsselmomente im Leben des Ich-Erzählers fallen ineinander und überlagern sich. Die Besuche im Krankenhaus bei seiner an Krebs erkrankten Schwiegertochter setzen bei dem Protagonisten einen Prozess in Gang, der Ereignisse aus der Zeit der Résistance ins Bewusstsein zurückholt. Damals war sein Freund unter nicht geklärten Umständen ums Leben gekommen.

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Die Tücken der Postmoderne

Von Norden her schließlich nähern wir uns der Mitte Europas und somit auch Deutschland und Österreich. Historisch stehen sich die beiden Länder nahe und sehen sich gerne als Vorreiter in Sachen Technologie und Entwicklung. Doch wohin führt diese Entwicklung in einer zunehmend individualistischen Gesellschaft, in der Zusammenhalt und gemeinsame Werte immer weiter in den Hintergrund zu treten scheinen?

Mit genau dieser Frage befasst sich auch Juli Zehs Roman „Leere Herzen“. Es handelt sich um einen ebenso provokanten wie packenden und brandaktuellen Politthriller aus dem Deutschland der nahen Zukunft. Es ist ein Lehrstück über die Grundlagen und die Gefährdungen der Demokratie. Und es ist zugleich ein verstörender‎ Kommentar über eine Generation, die im Herzen leer und ohne Glauben und Überzeugungen ist: Britta Söldner und ihr Geschäftspartner Babak Hamwi haben sich damit abgefunden, wie die Welt beschaffen ist, und wollen nicht länger verantwortlich sein für das, was schief läuft. Stattdessen haben sie gemeinsam eine kleine Firma aufgezogen, „Die Brücke“, die sie beide reich gemacht hat. Was genau hinter der „Brücke“ steckt, weiß glücklicherweise niemand so genau. Denn hinter der Fassade ihrer unscheinbaren Büroräume betreiben Britta und Babak ein lukratives Geschäft mit dem Tod.

Als die „Brücke“ unliebsame Konkurrenz zu bekommen droht, setzt Britta alles daran, die unbekannten Trittbrettfahrer auszuschalten. Doch sie hat ihre Gegner unterschätzt. Bald sind nicht nur Brittas und Babaks Firma, sondern auch beider Leben in Gefahr…

Auch in unserem Nachbarland Österreich stellt sich Autorin Elfriede Jelinek im Roman „Die Klavierspielerin“ die Frage, was es bedeutet in einer modernen Leistungsgesellschaft aufzuwachsen: Von ihrer Mutter wurde ihre Protagonistin unerbittlich zur Pianistin gedrillt. Und nun findet die Klavierlehrerin Erika Kohut nicht mehr aus der Isolation heraus. Unfähig, sich auf das Leben einzulassen, wird sie zur Voyeurin. Als einer ihrer Schüler ein Liebesverhältnis mit ihr anstrebt, erkennt sie, dass sie nur noch im Leiden und in der Bestrafung Lust empfindet. Die Bücher setzen sich also mit den Schattenseiten unserer modernen Gesellschaften auseinander und stellen einen kritischen und warnenden Kommentar dar.

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Alte und neue Herausforderungen

Schauen wir uns die Literatur Europas an, so wird deutlich, dass es einige Themen gibt, die uns besonders beschäftigen. Da wäre zum einen die Vergangenheit, die auf unserem Kontinent oft geprägt war von Kriegen und schier unfassbarer Grausamkeit. Darauf jedoch folgte die Überwindung alter Differenzen und das Aufblühen wahrer Freundschaften zwischen Ländern, die sich zuvor über Jahrhunderte feindselig und voller Hass gegenüberstanden. Doch nicht nur die Politik trieb die Bemühungen um Aussöhnung und ein geeintes und friedliches Europa voran. Auch die Literatur hatte ihren Anteil an dieser Entwicklung, schafften doch zahllose europäische Autorinnen und Autoren das, woran es lange mangelte: Einen echten oder auch nur fiktiven Dialog anzustoßen, ein Kennenlernen des Gegenübers, ein Hineinfühlen in das Wesen anderer Menschen in einst fremden Ländern. Auch dadurch konnte es gelingen, die konfliktreiche Vergangenheit zu überwinden und sich in Frieden und Respekt zu begegnen.

Heute ist einmal mehr die Einheit Europas gefährdet und die Herausforderungen der Zukunft sind vielfältig. Ob es der wachsende politische Einfluss populistischer Strömungen in zahlreichen europäischen Ländern ist, die Konsequenzen und Maßnahmen in Bezug auf den Klimawandel oder auch Streitigkeiten um Fragen der Migration, die Liste ist lang. Doch die Autorinnen und Autoren Europas werden auch diesen Prozess kritisch begleiten, Bücher verfassen, die zum Nachdenken und zum Austausch anregen. Und letztlich ist es an uns allen, den Erfolg der europäischen Entwicklung hin zu einem Kontinent von Frieden, Wohlstand und offenen Grenzen zu sichern. Literatur kann uns dabei helfen, indem sie unseren Horizont erweitert, uns die schwierige Vergangenheit näherbringt und verstehen lässt, gegenwärtige Entwicklungen kritisch begleitet und Zukunftsszenarien entwirft, die als Warnung oder Inspiration dienen können.

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