Fett und glücklich! Interview mit Sofie Hagen

„Fett“ ist ein neutrales Wort! Doch leider wird Fett-Sein in unserer Gesellschaft nach wie vor als eine Form des Versagens herabgewürdigt. Sofie Hagen, Comedian und Fat-Liberation-Aktivistin aus Großbritannien räumt mit diesem Vorurteil auf und zeigt uns neue Sichtweisen auf.

Selbstakzeptanz in Gegenwart von Diskriminierung

Die Fitnessstudio-Mitgliedschaft, die man zwar abgeschlossen hat, aber höchstens kurz vor dem Urlaub oder nach den Weihnachtsfeiertagen nutzt, das elende schlechte Gewissen, das einem nach einem riesigen Stück Schokotorte oder – Gott bewahre – sogar nach einem zweiten Stück überkommen, der immer kritische Blick in den Spiegel, bevor man das Haus verlässt, jeder kennt dieses nagende Gefühl der Selbstzweifel. Symptome einer Gesellschaft, in der die Selbstoptimierung oberste Priorität hat und das Dicksein mit Scheitern gleichgesetzt wird. Die dänische Comedian hat diesen fettenfeindlichen Einflüssen den Kampf angesagt und berichtet in ihrem Buch „Happy Fat“ davon, wie sie es geschafft hat, sich aus der Spirale der Zweifel zu befreien und nun glücklich zu sein. Mit ihrer Geschichte und denen vieler Leidensgenoss:innen macht sie anderen Dicken Mut, ihrer Diskriminierung durch die Gesellschaft den Kampf anzusagen.

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Herzlichen Glückwunsch, liebe Sofie, seit heute ist Dein Buch auch in deutscher Sprache erhältlich! Wir freuen uns natürlich sehr, Dich und Deine Message ab Donnerstag bei uns präsentieren zu können!

Dankeschön! Wenn nur mein Deutschlehrer mich jetzt sehen könnte.

Knapp zusammengefasst: Dein Buch heißt „Happy Fat – Nimm dir deinen Platz!“. Worum geht es?

Es ist ein Teil Memoir (aber nur über die fetten Teile meines Lebens), ein Teil Selbsthilfe (in gewisser Weise) und ein Teil sozialer Kommentar. Im Wesentlichen geht es darum, warum es in Ordnung ist, fett zu sein. Wie es ist, fett zu sein, warum es so sehr herabgewürdigt wird und wie ich gelernt habe, meinen Körper zu lieben. Es ist auch ein großes „F*ck Dich“ gegen den Kapitalismus und das Patriarchat.

Heute gehst Du mit Deinem Körper sehr offen und warm um. Das war für Dich sicher nicht immer einfach. Wie war Deine Beziehung zu Deinem Körper in Deiner Kindheit und Jugend? Wie bist Du aufgewachsen?

Ich glaube nicht, dass meine Kindheit in Bezug auf das Körperbild viel anders war als die der meisten molligen Kinder. Als ich 8 Jahre alt war, wurde ich unfreiwillig auf Diät gesetzt, weil ich als gefährlich fett eingestuft wurde. Das war ich nicht. Ich war immer noch im Wachstum. Wenn ich mir Fotos von damals ansehe, denke ich, dass ich genau so aussah, wie ich es sollte. Aber meine Beziehung zu Essen und meinem Körper war stark verzerrt. Mobbing, sowohl von Klassenkameraden als auch von Lehrern, weil ich zu fett war, brachte mich nur noch weiter in Essstörungen und Selbsthass. Danach habe ich vierzehn Jahre lang Diät gehalten.

Warst Du schon immer eine fröhliche, lustige Person? Auf den Bildern, die man heute sieht, strahlst Du so viel Lebensfreude aus!

Ich war nicht glücklich, bis ich Mitte zwanzig war: Zu diesem Zeitpunkt fand ich das Stand-up-Comedy, die positive fette Gemeinschaft, den Feminismus und war einige Jahre in Therapie. Meine Lebensfreude schreibe ich voll und ganz der Tatsache zu, dass ich seit meinem siebzehnten Lebensjahr in der Therapie kontinuierlich an mir selbst gearbeitet habe. Und das tue ich immer noch. Wir tendieren dazu, den Menschen zu sagen, dass sie glücklich sein werden, wenn sie abnehmen oder einen neuen Lippenstift oder ein neues Auto bekommen. Aber es hat oft mit vergangenen Traumata zu tun – von denen wir alle einige haben. Jetzt bin ich sehr glücklich. Ich war immer lustig, aber andere Leute waren anderer Meinung, bis ich mit dem Stand-up anfing. Wer lacht jetzt? Sie tun es.

Wie hast Du es geschafft, Deine anerzogene Denkweise zu durchbrechen, um endlich frei zu leben? Hast Du Tipps, was Dir besonders geholfen hat?

In meinem Buch gibt es ein ganzes Kapitel mit dem Titel „Wie man seinen Körper liebt“. Ich habe all meine Erfahrungen und mein ganzes Wissen darüber gesammelt, wie man seinen Körper liebt. Der allererste Schritt ist die Erkenntnis, dass es keine Tatsache ist, dass Fett Dich weniger wert macht. Es klingt so einfach zu sagen, „Fett ist keine schlechte Sache“, aber den meisten von uns wurde das schon seit unserer frühesten Kindheit eingetrichtert, deshalb ist es schwer loszulassen.

Du bist in einer kleinen Stadt in Dänemark aufgewachsen und hast in Kopenhagen Russisch gelernt. Du lebst seit 2012 in London. Dort bist Du als herausragende Comedian bekannt. Wie kam es dazu?

Ich denke oft, man muss entweder wirklich mutig oder wirklich dumm sein, um eine Karriere in der Comedy zu verfolgen, und manchmal frage ich mich, was davon ich war. Ich glaube, es war mutig, aber es war definitiv nicht der klügste Schachzug. Ich habe Stand-up einfach geliebt. Ich habe 2010 angefangen, Gigs zu spielen, seitdem hing ich am Haken. Die Szene in London war größer als in Kopenhagen, also bin ich hierher gezogen, um mehr Erfahrung zu sammeln. Es fühlt sich an wie gestern, obwohl es schon sieben Jahre her ist.

Wann war Dein „Durchbruch“? Wie fühlt es sich an, als kleines Stadtkind aus Dänemark plötzlich international bekannt zu sein, ganz zu schweigen auf großen Bühnen aufzutreten?

Ich glaube nicht, dass es einen Durchbruch gab. In einigen Aspekten bin ich immer noch nicht richtig durchgebrochen. Es wird Leute geben, die dies lesen und zum Beispiel noch nie von mir gehört haben. Ich habe 2015 einen großen Comedy-Preis gewonnen, und dann bemerkte mich die Branche definitiv. Ich stelle mir meinen Grad an „Ruhm“ oder ”Nicht-Ruhm“ gerne so vor: Es gibt nicht Millionen Menschen, die mich kennen, aber diejenigen, dies es tun, scheinen sehr glücklich darüber zu sein, es zu tun. Die „Fans“, die ich habe, sind wirklich nett und engagiert.

Du tourst seit 2015 mit Deinen Shows durch Großbritannien und bewegst die Massen. Der Guardian schreibt, dass Du „einen einfachen Charme hast ... und die Fähigkeit, heikle Themen mit großen, zugänglichen Lachern zu kombinieren". In Deinen Shows sprichst Du soziale „Tabuthemen“ an. Im Großen und Ganzen setzt Du Dich für die „Fat Liberation“ und Intersektionalität (Überschneidung von verschiedenen Diskriminierungsformen in einer Person) ein. Kannst Du uns etwas darüber erzählen? Warum magst Du den Begriff „Body Positivity“ nicht? Wie identifizierst Du Dich mit Fat Liberation?

Ich kann stundenlang über Fat Liberation und Body Positivity sprechen (wie ich es in dem Buch getan habe, da es äußerst wichtig ist), aber ich werde versuchen, es kurz zu machen. Fat Liberation ist eine Bewegung, die 1969 ins Leben gerufen wurde. Im Allgemeinen ging es darum, sicherzustellen, dass dicke Menschen gleiche Rechte haben, dass wir Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung haben und dass wir nicht von Regierung, Gesellschaft, Medien und Medizin diskriminiert werden. Bei Body Positivity geht es darum, wie jeder seinen Körper lieben sollte. Und oft wird es von denselben Unternehmen verwendet, die dicke Leute diskriminieren, um ihre Produkte zu verkaufen. Wenn Du Dir die wichtigsten Vorbilder in der Body-Positivity-Bewegung ansiehst, sind sie normalerweise ziemlich dünn, weiß, wohlhabend, körperlich uneingeschränkt, weiblich und lächeln viel. Die ursprüngliche Fat-Liberation-Bewegung wurde von queeren, fetten, jüdischen und schwarzen Frauen ins Leben gerufen. Das ist ein massiver Unterschied. Wir bekommen keine soziale Veränderung durch Body Positivity. Body Positivity möchte, dass Du Deinen Körper liebst. Fat Liberation möchte, dass man uns niemals lehrt, unseren Körper zu hassen.

Wie wirkt sich Intersektionalität auf Dein Leben aus?

Intersektionalität ist die Idee, dass verschiedene Arten von Unterdrückung nebeneinander existieren. Zum Beispiel bin ich fett, nicht binär, als Frau wahrgenommen, queer, habe verschiedene psychische Probleme und komme aus einer Arbeiterfamilie. Ich erlebe also Fettphobie, Transphobie, Sexismus, Homophobie, Ableismus, also Behindertenfeindlichkeit, und Klassismus. Aber man kann sie nicht voneinander trennen, weil ich all diese Dinge bin. Der intersektionale Feminismus erkennt also an, dass man nicht nur für „Frauen“ kämpfen kann (weil es sich dabei dabei häufig nur um weiße, cis, dünne, körperlich fähige, heterosexuelle Frauen dreht). Man muss erkennen, dass es schwarze Frauen, Frauen der Arbeiterklasse, queere Frauen, dicke Frauen usw. gibt. Wenn man also will, dass „alle Frauen“ befreit werden, muss man auch gegen Fettphobie, Rassismus, Ableismus, Queerphobie, Islamophobie, Transphobie und so weiter kämpfen.

Was ist die Geschichte hinter Deinem ersten Buch „Happy Fat“? Was war das Schlüsselereignis, um dieses Buch zu schreiben?

Wenn ich nach einem Auftritt von der Bühne komme, werde ich sehr häufig von Zuschauern gestoppt und sie fragen: „Wie schaffst Du es, Deinen Körper zu lieben?“ Und ich fing einfach an zu reden und zu reden und ich hatte das Gefühl, ich könnte mich mit ihnen hinsetzen und stundenlang mit ihnen reden. Ich hatte es satt, mich zu wiederholen, und wünschte, ich könnte einfach auf ein Stück Arbeit zeigen und sagen „HIER! LESEN SIE DAS! “... Also schrieb ich das Buch.

*Du hast im Rahmen Deiner Buchrecherche einige Interviews geführt. Welcher Deiner Interviewpartner hat Dich besonders berührt und vielleicht Deine Perspektiven weiterentwickelt? * Sie waren alle absolut fantastisch. Dina Amlund zerstörte den Mythos, dass es in den alten Zeiten okay gewesen sei, fett zu sein, Matilda Ibini sprach über Barrierefreiheit in einer solchen Weise, an die ich als körperlich uneingeschränkte Person noch nie gedacht hatte. Stephanie Yeboah sprach über Rassismus und Colorism und die Erkenntnisse daraus waren erstaunlich. Kivan Bay sprach davon, trans und fett und queer zu sein, und ich liebe ihn – er war im Hintergrund auch mein „Forscher“ für dieses Buch und das machte die ganze Erfahrung so phänomenal.

Was wünscht Du Deinen Leser:innen? Und was willst Du für die Gesellschaft?

Ich möchte, dass meine Leser:innen erkennen: Es war nie Deine Schuld. Du hast immer nur Dein Bestes gegeben. Und diesen Hass auf Deinen Körper haben sie uns beigebracht, um Geld zu verdienen. Für die Gesellschaft möchte ich den Kapitalismus und das Patriarchat zerstören. Ich will radikalen Sozialismus.

Ich habe gehört, die Frage, die Comedians am liebsten beantworten, lautet: Kennst du einen guten Witz?

Oh, ich kenne viele. Sie sind alle in meinen Stand-up-Comedy-Shows enthalten, die auf meiner Website erhältlich sind: sofiehagen.com :)

Vielen lieben Dank, Sofie, dass Du Dir Zeit genommen hast, unsere Fragen zu beantworten, und ganz viel Erfolg für Dein Buch, das sicherlich einen ganz wichtigen Beitrag für den Diskurs rund um Fat Liberation und Insektionalität liefern wird.

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Nachklang

Anlässlich der Recherchen zu diesem Interview haben wir uns bei Skoobe erneut kritisch mit unserem geschlechterbewussten Sprachgebrauch auseinandergesetzt. Bereits vor einiger Zeit sind wir dazu übergegangen, nicht nur die männliche Form „Leser“ oder „Autoren“ zu benutzen, sondern mittels des Schrägstrichs auch die weibliche Form zu inkludieren („Leser/in“ bzw. „Autor/innen“), um weder sich dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugehörig Fühlende zu diskriminieren. Mehr und mehr wird aber die Gruppe der Menschen ins Zentrum des Bewusstseins gerückt, die sich allerdings weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen und sich in der suggerierten Dualität, die der Schrägstrich oder das Binnen-I vermitteln, nicht abgebildet fühlen.

Geläufige Alternativen zu diesen Schreibweisen wären der Unterstrich (auch als Gender Gap bezeichnet) oder ein Sternchen. Beide Schreibweisen führen auf technischer Ebene allerdings häufig zu Formatierungsschwierigkeiten und auch die Lesbarkeit scheint teilweise gestört, weshalb wir uns für den Genderdoppelpunkt entschieden haben. Denn dieser ist auch weitestgehend barrierefrei. So machen Sprachausgabeprogramm wie sie häufig von Sehbehinderten verwendet werden beim Doppelpunkt in der Regel eine kleine Pause, während Unterstriche oder Asterisken meist vorgelesen werden. Ab sofort werden wir Dich also als „Leser:innen“ ansprechen. Im Augenblick gibt es (noch) keine einheitliche Regel für den geschlechterbewussten Sprachgebrauch, aber wir wollen einen Schritt in diese Richtung machen, um für Toleranz und gegen (sprachliche) Diskriminierung einzutreten.

Wie siehst Du das? Hast Du auch schon eine Form der Diskriminierung erfahren? Wie bist Du damit umgegangen? Schreibe uns Deinen Kommentar unter feedback@skoobe.de, Facebook oder Instagram.

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